Tabuthema Sterben durch Suizid - Mein bester Freund

Sterben durch Suizid


An seinem 18. Geburtstag nahm sich mein Freund das Leben. Er entschied sich zu sterben und es war eine Entscheidung, an der ich ihn nicht hindern konnte. Es verging sehr viel Zeit, in der ich die Trauer in mir getragen habe. Jedes Mal, wenn ich versuchte, über sein Sterben zu reden, hörte ich nur:

„Wie feige, sich das Leben zu nehmen!“

„Was für ein A........., hat dich zurückgelassen und hat sich einfach v******t!“


Die Menschen bezeichneten meinen Liebsten als „Schwächling, Egoist, Ars.... usw.“.


Als ob nicht schon genug Schmerz vorhanden wäre, mussten die Menschen einen Schuldigen suchen, der schnell gefunden war: sein Vater.


Sein Tod, seine Entscheidung nicht mehr weiter zu leben, wurde nicht akzeptiert. Es gab immer zwei Versionen, die erzählt wurden:

Meine: Er hat sein Leben im vollen Bewusstsein beendet, weil er keinen Weg mehr sah.


Seine Familie: Er ist bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen, an dem er keine Schuld hatte.


Unsere Gesellschaft urteilt sehr hart, gerade was Suizid angeht. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen, denn dies veränderte meinen Schmerz nicht. Es gab Ereignisse in seinem Leben, die er nicht verkraftet hat und deshalb seinen Weg auf sich nehmen wollte.


Meiner Meinung nach war es nicht der richtige Weg, aber vielleicht der einzige, den er noch gesehen hat? Die Frage nach dem „Warum?“ ist geblieben, obwohl ich sehr viele Hintergründe kenne, aber manche sind auch nur Mutmaßungen. Ich vermisse ihn sehr, auch nach so vielen Jahren und habe es nach der Zeit akzeptiert, dass er diesen Weg gegangen ist.


Ich schrieb ihm einen Brief, der mir meine Trauer erleichterte. Er ist gestorben, ich blieb zurück und erzähle sehr oft seine Lebensgeschichte, damit er nicht vergessen wird. Versöhnung und Liebe sind übrig geblieben, nachdem ich reifer wurde.


Bevor Ihr einen Menschen verurteilt, weil er ging, stellt Euch die Frage, wieso verurteilt Ihr seine Entscheidung, ohne sein Leben gelebt zu haben?




Für Dich: Abschied für immer?


Du hast dich entschieden, für immer Abschied zu nehmen. Ob es wirklich für immer war oder auch ist, wird die Zeit zeigen.


Wenn ich die Augen schließe und mir dein Gesicht vorstelle, dann sehe ich dich mit einem Lächeln im Gesicht. Nur ist es für mich sehr schwer vorstellbar, dass das Lächeln für immer erloschen sein soll. Du hast sehr gerne gelacht, oder war es nur ein aufgesetztes Lächeln, damit kein Mensch hinter die Maske sehen kann, was in Dir vorgeht?


Viele Menschen wollten nicht sehen, wie es Dir wirklich geht. Jeder hat Dich lachend und stark gekannt. Jeder hat gedacht, Du wirst Dein Leben meistern. Nur wenige kannten Dich wirklich: traurig, schwach, lebensmüde, Zuneigung suchend, lieb, zart, gefühlvoll, romantisch und sehr verletzt. Deine Seele war so verletzt, dass es mir auch wehtat. Ich habe gewusst, wie zerbrechlich Du bist. Du bist daran zerbrochen. Es gibt tausend Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Vielleicht werde ich sie irgendwann mal stellen können? Vielleicht werde ich Dir noch einmal begegnen?


Wir haben uns stundenlang darüber unterhalten, wie das Leben weitergehen soll. Wir haben nächtelang über Deine Vergangenheit gesprochen, dabei hast Du vergessen, dass es eine Zukunft für Dich gibt. Die Vorstellung an die Zukunft war für Dich nicht ertragbar. Deine Angst war stärker als Dein Leben.


Ich sagte immer: „Schaue nicht zurück, schaue nach vorne.“ Denn die Vergangenheit kannst Du nicht verändern, aber die Zukunft liegt in Deinen Händen."


Es gab Momente, in denen ich gehofft habe, dass es eine Zukunft für Dich gegeben hätte. Ich habe gewusst, dass Du die Vergangenheit nicht hinter Dir lassen konntest, denn die Vergangenheit hat zu Dir gehört. Die Vergangenheit, die Du so gerne ausradiert hättest. Wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich Dir sehr gerne dabei geholfen, sie aufzuarbeiten. Nur Dir war klar, dass sie Dich nie im Leben loslassen wird.


Ich erinnere mich an den Moment, als ich per Telefon erfahren habe, dass Du verunglückt bist. Im ersten Moment war ich sauer auf Dich. Sauer, weil Du wirklich gehen wolltest. Sauer, weil ich gedacht habe, dass Du dich feige aus diesem Leben schleichst, ohne etwas zu sagen. Ich hatte Wut auf Dich. Ich hatte Wut, weil Du mich alleine lassen wolltest. Ich hatte Wut, weil Du nicht mehr kämpfen wolltest.


Dann fuhr ich zu Dir ins Krankenhaus. Ich kam noch rechtzeitig auf der Intensivstation an und gab mich als den Bruder aus, den Du niemals hattest. Ich konnte Deine Hand noch festhalten und habe in dem Moment gehofft, dass Du wieder wach wirst. Als der Arzt mir sagte, du lägst im Koma und man wüsste nicht, ob Du die Nacht überlebst, wurde mir klar, dass Dich keiner mehr halten konnte und Du gehen wirst. Denn so hast Du Dir deine Zukunft vorgestellt. Ich hielt Deine Hand fest, denn ich habe Dir versprochen, ich werde bei Dir sein, wenn es je soweit sein sollte. So weh, wie es mir auch tat, ich wollte mein Versprechen einlösen.


Ich kann mich nicht erinnern, wie lange es dauerte, aber den Moment werde ich nie vergessen, als Du Deine Augen aufgemacht hast. Mir liefen die Tränen über die Wangen. Du schautest mich an, als ob Du mich noch einmal sehen wolltest, um Dich von mir zu verabschieden. Deine Augen sagten mehr als tausend Worte. Plötzlich hast Du deine wunderschönen Augen verdreht, hast aufgehört zu atmen und dein Herz hat für immer aufgehört zu schlagen. Ich stand da, wie gelähmt und konnte mich nicht bewegen, ich habe gemerkt, dass Du den Kampf aufgegeben hast und "friedlich" eingeschlafen bist.


Mein Herz war voller Schmerz. Dann habe ich Dir Deine Augen geschlossen. Diese wunderschönen Augen blieben für immer geschlossen. Nach einer gewissen Zeit wurden die Geräte von einem Arzt abgestellt. Nun war kein Geräusch mehr von einer Pumpe zu hören oder das Warnsignal des Beatmungsgerätes und des EKGs. Ich hielt immer noch Deine Hand, wollte Dich einfach nicht loslassen.


Als der Augenblick kam, in dem der Arzt mir sagte, dass es vorbei sei, musste ich das Zimmer verlassen. Er hat mir sein Beileid ausgesprochen und er sagte, dass es ihm leid täte, dass Du so früh im Alter von 18 Jahren verstorben bist. Ich musste einfach noch einmal zu Dir ins Zimmer zurück - ich mochte Dich dort nicht alleine lassen. Es war so still. Mein Atem war deutlich zuhören. Meine Wut ist umgeschlagen in Trauer und Schmerz. Ich setzte mich neben Dich und hielt noch einmal Deine Hand. Ich habe mir gewünscht, dass es ein Traum sei, aus dem ich wieder aufwache. Ich weinte und mein Herz schrie ganz laut: "Komm zurück, bitte, bitte lass mich nicht alleine hier, lass mich bei Dir sein!!"




Als du gestorben bist, starb etwas auch in mir. Ich blieb bei Dir, bis Deine Mutter kam. Sie nahm mich in den Arm und wir haben gemeinsam um Dich geweint. Es ist uns sehr schwer gefallen, Dich in dem kalten, stillen Krankenzimmer alleine zurückzulassen.


Du hattest mir einen Brief hinterlassen. Als ich ihn gelesen habe, fing ich an, Dich zu verstehen. Bereits bei den ersten Zeilen liefen mir die Tränen über das Gesicht. Die Worte, die Du an mich gerichtet hast, so wunderschöne Sätze, habe ich nie in meinem Leben zuvor gehört oder gelesen. Sätze, mit soviel Gefühl geschrieben. Du hast versucht mir zur erklären, warum es für Dich keine Zukunft geben wird und warum Du Dich entschieden hast, für immer zu gehen.


Ich habe sehr viel über Deinen Abschiedsbrief nachgedacht. Ich weiß, Du wolltest mir nicht wehtun. Und doch hat es verdammt wehgetan, denn mit Dir verlor ich einen sehr guten Freund, jemand, der mir sehr wichtig war, jemanden, den ich sehr liebte und immer noch liebe. Ich verlor Dich in Menschengestalt, aber in Gedanken und in meinem Herzen lebst Du für immer weiter.


Ich denke sehr oft an unsere Gespräche, an unsere Witze, an die Zeit, als ich redete und Du mir zuhörtest und auch umgekehrt. Ich denke an unsere gemeinsame Zeit, als Du mich in den Arm genommen hast oder umgekehrt. Du warst, nein Du bist für mich ein sehr wichtiger, sogar mein bester Freund. Die Tränen, die ich für Dich vergossen habe, waren Tränen der Trauer. Tränen die mir immer wieder über das Gesicht laufen, weil ich Dich so sehr vermisse. Mir fehlt Dein Lächeln, Deine Nähe, Dein Humor und Deine sensible Art, die so einen wunderbaren Menschen aus Dir machten.





Du schriebst mir: "Weine nicht, lächle nur, denn wenn Du in den Himmel schaust, will ich Deine blauen Augen ohne Tränen sehen."


Ich hoffe, Du kannst auch mich verstehen, dass mir die Tränen kommen, denn die Tränen sind ein Beweis der Freundschaft, der Liebe und der Sehnsucht nach Dir.


Sehr oft, wenn ich eine Kerze anzünde, denke ich an Dich. Denn die brennt nur eine bestimmte Zeit und dann erlischt sie, so wie Dein Leben hier auf Erden erloschen ist. Doch Deine Lichtquelle war noch nicht wirklich abgebrannt. Du bist gegangen, weil Dich nur sehr wenige Menschen verstanden haben. Du hast uns verlassen, weil andere Menschen Dich gelöscht haben. Aber Schuldzuweisungen möchte ich nicht machen, denn ich weiß, es ist nicht in Deinem Sinne.


Du bist gegangen, weil Du Dich für diese Welt und für die Menschen zu schwach gefühlt hast. Du bist gegangen, weil Deine Seele voller Kummer und Sorgen war. Du bist gegangen, weil Du so zart und zerbrechlich warst. Du bist gegangen, weil Dein Herz schmerzte, es wurde Dir so oft weh getan, zu oft.


Ich habe von Dir Abschied genommen, habe lange an Deinem Sarg gestanden und gehofft, es wäre ein Traum, aus dem ich wieder erwachen würde. Leider war es kein Traum sondern grausame Realität. Du hast in dem Sarg gelegen, als würdest Du schlafen. Dann kam der Moment, als ich Dir den letzten Kuss geben durfte. Deine Haut hat sich so weich und doch so kalt angefühlt, deine Lippen waren so zart. Dein weißer Sarg war wunderschön mit roten Rosen geschmückt. So wunderschön, wie Du es Dir gewünscht hast. Du hattest einen schönen Anzug an, mit einem dunklen Hemd und einer weißen Krawatte. Auf Deiner letzten Reise habe ich Dir meine Kette mit einem halben Herz mitgegeben, die andere Hälfte werde ich tragen. Unsere Herzen sind aber mehr als nur Symbole.





Mein Herz wird für Dich weiter schlagen.


Dann kam der letzte lange Weg. Als ich hinter Deinem Sarg her gegangen bin, wurde mir klar, dass unser gemeinsamer Weg bald zu Ende sein würde. Als Dein Sarg am Grab ankam, waren wir am Ende unseres gemeinsamen Weges. In dem Moment, als Dein Sarg herabgelassen wurde, fing die Sonne an zu scheinen. War dies ein Zeichen? Ich fiel auf die Knie und fing bitterlich an zu weinen. Es wurde mir so bewusst, dass dies der Moment war, in dem alles sein Ende nahm. Es tat so weh, es tat wirklich verdammt weh, Dich gehen zu lassen. Vor diesem Moment habe ich eine Menge Angst gehabt. Nun war aber der Moment da.


Zum Abschied habe ich Dir gesagt: „Du lebst für mich weiter. Danke für die Zeit, die wir gemeinsam verbringen durften. Danke, dass Du mein Freund bist. Ich bin nicht böse auf Dich und auch nicht sauer. Ich bin nur sehr traurig, aber es war Deine Entscheidung und die muss ich akzeptieren, so schwer wie es mir auch fallen wird.“

Oft besuche ich Dein Grab und ich kann die Tränen nicht unterdrücken. Und während ich so dastehe, meine ich Deine Stimme zu hören, die leise zu mir sagt: „Marek, ich bin glücklich, da wo ich jetzt bin und mein Leben ist kein Kampf mehr.“


Es war in meinen Augen nicht der richtige Weg, den Du gegangen bist, aber für Dich war es der einzige, den Du gesehen hast. Ich bin sehr froh, Dich kennengelernt zu haben. Du hast mir gezeigt, was wahre Freundschaft ausmacht und seit diesem Tag habe ich gemerkt, was dieses Wort wirklich bedeutet.


In ewiger Freundschaft

Marek Jan




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