Das Tränenkrüglein
Es waren einmal eine Mutter und ein Kind, und die Mutter
hatte das Kind, ihr einziges, lieb von ganzem Herzen und
konnte ohne das Kind nicht leben und nicht sein.
Aber da sandte der Herr eine große Krankheit, die wütete
unter den Kindern und erfasste auch jenes Kind, dass es
auf sein Lager sank und zum Tod erkrankte. Drei Tage und
drei Nächte wachte, weinte und betete die Mutter, die nun
allein war auf der ganzen Gotteserde, ein gewaltiger und
namenloser Schmerz, und sie aß nicht und trank nicht und
weinte, weinte wieder drei Tage lang und drei Nächte lang
ohne Aufhören und rief nach ihrem Kinde.
Wie sie nun so vollen tiefen Leides in der dritten Nacht saß,
an der Stelle, wo ihr Kind gestorben war, tränenmüde und
schmerzensmatt bis zur Ohnmacht, da ging leise die Türe auf,
und die Mutter schrak zusammen, denn vor ihr stand ihr
gestorbenes Kind. Das war ein seliges Engelein geworden
und lächelte süß wie die Unschuld und schön wie in Verklärung.
Es trug aber in seinen Händchen ein Krüglein, das war schier
übervoll. Und das Kind sprach:
"0 lieb Mütterlein, weine nicht mehr um mich! Siehe, in
diesem Krüglein sind deine Tränen, die du um mich vergossen
hast; der Engel der Trauer hat sie in diesem Gefäß gesammelt.
Wenn du noch eine Träne um mich weinest, so wird das
Krüglein überfließen, und ich werde dann keine Ruhe haben
im Grabe und keine Seligkeit im Himmel.
Darum, O lieb Mütterlein, weine nicht mehr um dein Kind,
denn dein Kind ist wohlaufgehoben, ist glücklich, und Engel
sind seine Gespielen."
Damit verschwand das Kind und die Mutter weinte hinfort
keine Träne mehr, um des Kindes Himmelsfrieden nicht zu stören.
Ludwig Bechstein (1801-1860)
Mit stillem Gruß
Helga
