Lebensmut

  • Auch über zwei Jahre nach dem Tod meine Lebenspartners führe ich mein Leben widerwillig weiter.
    Trotz eines schönen Jobs, bester körperlicher Gesundheit und verständnisvoller Freunde.
    Es ist mir noch nicht gelungen, Lebewohl zu sagen. Ich kann das noch nicht.
    Unser wunderschönes Zusammensein hatte 20 1/2 Jahre angedauert, es sollte bis ins hohe Alter so weitergehen.
    Wir waren ganz einfach angekommen.


    Hat sich überhaupt etwas verändert in diesen 26 Monaten?
    Ja, die Momente, in denen ich Glück empfinde, sind häufiger geworden.
    Ganze Tage kann ich als schön erleben.
    Aber auch diese Tage gehen vorbei, und das Leiden setzt sich fort.


    Wenn ich die letzten Monate überschaue, fällt mir immer wieder auf, dass mir beglückende Erlebnisse für den Moment sehr viel Kraft können. Neugier und Lust auf das Leben.
    Solche Erlebnisse können ein schönes Gespräch mit Freunden sein, die mich mit ihrer Vitalität und Power anstecken, irgendein Erfolg im Alltag, den ich mir selbst zu verdanken habe, ein Naturerlebnis....
    Das Leben gewinnt dann wieder an Reiz.


    Die Wirkung ist dann für den Moment so stark, dass richtig Euphorie aufkommt.
    Aber sie muss auch anhalten bis zur nächsten "Dosis" Lebensmut.
    Und das wird schwierig, denn sie schwächt sich ab.
    Sie reicht dann gerade mal so für den Alltag, wie eine Hungerration.
    Es dauert Tage, manchmal Wochen bis zur nächsten Dosis.
    Ich bin ein geduldiger Mann, und das ist gut so. Ich warte ab. Diesen Becher Lebensmut bekomme ich jetzt immerhin schon öfter zutrinken als vor einem Jahr. Vielleicht setzt sich der Trend fort.


    Selber mehr dafür zu tun, ist möglich. Sport zum Beispiel gibt mir die Chance, meinem Körper zu zeigen, dass ich ihn im Griff habe. Dass ich überhaupt wieder etwas im Griff habe.
    Aber meistens fehlt noch die Kraft dazu. Ich warte also weiter auf den nächsten Becher Lebensmut...
    Hört sich sicherlich blöd an, weil es so passiv klingt.
    Aber wenn mir die Trauer alle Kraft nimmt, selbst etwas zu tun,bleibt mir nur, abzuwarten und zu vertrauen.
    Die guten Tage werden häufiger.

  • Über ein Monat ist vergangen seit meinem Eintrag, und es lief in diesem Stil weiter.
    Das ist jetzt der 862. Tag ohne meinen Partner.
    Es ist nicht schön, vorwärts zu zählen, denn dieses Vorwärtszählen hat ja kein Ende. Die Zahl sagt mir nur: "mehr und mehr und mehr...". Ein Countdown kommt aber auch nicht in Frage: Das hatte ich zwar schon einmal probiert und mir willkürlich 30 Jahre als Single gegeben. Jetzt noch 27 1/2....
    So etwas wie lebenslänglich. Da kann ich die Tage rückwärts zählen. Wie man es wohl in Haft tut, und wie ich es vom Wehrdienst her kenne.
    Dann hatte ich es aufgegeben. Die Zeitvorgabe ist zu willkürlich, und das ganze ist Effekthascherei.
    Der größte Fehler daran: Es ist absolut passiv. Ich selber würde keine Rolle mehr spielen.


    Aber mach dich nicht verrückt. Es war doch nur eines von vielen Gedankenspielen seit dem Tag X.
    Ich suche etwas zum Festhalten. Gar nicht so leicht, wenn man ohne ein Glaubenskorsett aufgewachsen ist.
    Was gar nicht taugt, kann ich wieder verwerfen.
    Freunde mahnen mich mitunter: Tu doch mal was, grüble nicht nur.
    Ich entgegne dann meistens: Sorry, die Grübelei ist das, was mich vom Schimpansen unterscheidet.


    Anfangs hatte ich von Erfolgserlebnissen geschrieben, die mir Lebensmut geben können.
    Kind, es ist so leicht: Alles, was ich dafür brauche, steht, liegt oder hängt um mich herum.
    Es ist meine eigene Wohnung. Ihre Verwahrlosung aus Trauer bietet mir Chancen, die gar nicht näher liegen könnten. Ich muss nur zugreifen. Irgendetwas aufräumen. Wie simpel.
    Dass ich dazu bisher nicht in der Lage war, oder nur kampagnenweise unter Druck, ist so demütigend.
    Als wäre ich tatsächlich zurückgefallen. Als sei ich auf dem Stand eines Heranwachsenden und nicht Ende Vierzig.


    Ich weinte gestern am Telefon, nur aus Schwäche. Die Freundin am anderen Ende der Leitung meinte: "Ja, das kenne ich. Mir tut nichts weh, und doch weine ich. Nur aus Schwäche."
    Sie wird in vier Tagen da sein, um ein bisschen mit anzupacken.
    Das ist perfekt. Ich habe vier Tage, um Vorarbeit zu leisten. Und ich habe eine starke Motivation.
    Es ist so, als würde "Besuch" kommen. Nur mit dem Unterschied, dass sie den größten Teil des Elends noch sehen wird und sehen darf.
    Die Motivation ist viel wichtiger als die praktische Hilfe.
    Wenn man mir sagt: "Tu es für dich selbst", dann bringt das nichts, denn ich bin mir relativ egal, seitdem ich das Liebste und Wertvollste verloren hatte. Ich muss es für jemand anders tun.


    Ich sagte ihr: "Du dürftest mich jetzt nicht sehen".
    Mit meinem Regenschirm, dem Handy in der anderen Hand, mit dem verzerrten Gesicht unter Tränen in der stillen Industriestraße kurz vor Mitternacht...
    Sie darauf: "Wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich dich umarmen." Sie ist eine Mutter. 10 Jahre jünger als ich,aber das spielt keine Rolle.
    In meine Tränen aus Schwäche mischten sich ... Freudentränen?
    Ein Becher Lebensmut.

  • Neu erstellte Beiträge unterliegen der Moderation und werden erst sichtbar, wenn sie durch einen Moderator geprüft und freigeschaltet wurden.

    Hier handelt es sich um ein Trauer-Austausch-Thema.
    Bitte in diesem Thema KEINE Kerzen verwenden.